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„Das war eine 5-Sterne-Reanimation“

Semi Russ und Filip Vrbetic werden an diesem Juni-Tag über sich hinauswachsen. Sie fahren mit dem Roller durch Remshalden-Grunbach. Das Thermometer klettert am frühen Nachmittag auf fast 30 Grad. Plötzlich sehen sie am Straßenrand einen Mann auf dem Gehsteig liegen. Daneben eine aufgeregte Frau mit Handy am Ohr. „Hast Du das gesehen?“, fragt Semi Russ seinen Freund. „Lass uns umdrehen!“ Sie wenden, steigen ab und leisten Erste Hilfe. Die nächsten Minuten werden sie nicht vergessen. Der DRK-Rettungsdienst spricht von einer beeindruckenden Leistung. „Die beiden haben souverän und vorbildlich reagiert“, sagt Notfall-sanitäter Kai Frinke, der vor Ort war. Eine perfekte Rettungskette.

„Es war klar, dass der Mann etwas Schlimmes hat“, erinnert sich Semi Russ bei einem Gespräch mit Kai Frinke. Der Notfallsanitäter hat es vielen Dienstjahren selten erlebt, wie Laien, 17 und 16 Jahre alt, eine Ausnahmesituation so meistern konnten. „Die beiden haben tolle Arbeit geleistet: Sie haben den Notruf alarmiert, eine sehr gute Reanimation durchgeführt, den Defibrillator eingesetzt und den Patienten wieder mit Herzfrequenz an uns übergeben“, lobt Kai Frinke. Es sei nicht die Regel, dass Menschen so agieren. Semi und Filip blicken sich an. Der Mann habe wie tot auf dem Boden gelegen, die Stirn habe auf den Boden gedrückt, Blut sei aus einer Wunde ausgetreten. „Das Gesicht war blau angelaufen“, erinnert sich Filip. Sie ahnten, dass jede Sekunde zählt. „Wir haben nur abgeliefert. Wenn wir nicht geholfen hätten, wer macht es sonst?“ Ihr Einsatz war vorbildlich, betont Kai Frinke. Was war passiert? 

Rückblick

Als die beiden bei dem schweren Mann eintreffen, knien sie nieder, sprechen ihn an. Keine Reaktion. Sie versuchen, ihn auf den Rücken zu drehen. Das gelingt erst mit vereinten Kräften. „Der Mann atmete nicht, sabberte, hatte sich eingenässt“, beschreibt Filip Vrbetic die Szenerie. Ihre Diagnose: Herzinfarkt oder Schlaganfall. Dann gerät die Frau in ihren Fokus. Sie hatte den Notruf gewählt, wirkt aber überfordert, sagt Semi Russ. Er zeigt Initiative, übernimmt den Notruf. Er erinnert sich an die konzentrierten Fragen des Disponenten der Integrierten Leitstelle Rems-Murr. Wo genau befinden sie sich? Der Rettungswagen ist auf dem Weg. Was ist geschehen? Atmet der Mann? Hat er Puls? Semi und Filip helfen. Aber das Telefonat endet nicht. Der Disponent wird zum wichtigen Hinweisgeber.

Semi spürt keinen Puls. Der Disponent weist ihn an, sie müssten nun reanimieren. Kurz habe er sich an den Erste-Hilfe-Kurs in der sechsten Klasse erinnert. „Ich habe kurz Filip angeguckt und dann Hemd und T-Shirt aufgerissen. Der Mann von der Leitstelle hat mir gesagt, was ich machen soll!“ Semi drückt auf den Brustkorb. „Die Leitstelle hat mir den Rhythmus vorgegeben.“ Der Disponent merkt, dass Semi zu vorsichtig ist, denn noch zeigt der Patient keine Reaktion. Er solle tiefer drücken. „Ich war unsicher“, sagt er, „denn ich habe Kraft.“ Er überwindet sich, drückt tief. „Ich habe sofort gespürt und gehört, wie die Rippen gebrochen sind.“ Das sei nicht so schlimm, erklärt ihm der Disponent sofort. „Das hat mich beruhigt.“ Er drückt weiter. „Ich habe gesehen, dass der Kopf weniger blau wurde.“ Filip registriert kurze Atemstöße, der Kopf schlägt hoch. „Es war gut, dass wir früh gemerkt haben, dass da noch ein Hauch Leben im Körper war. So haben wir Hoffnung gesehen.“ 

Filip holt einen Defi

Der Disponent leitet den nächsten Schritt ein. Im Defi-Netz Rems-Murr sind Hunderte der medizinischen Geräte hinterlegt, die mit elektrischen Impulsen den Herzrhythmus bei plötzlichem Herzstillstand wiederherstellen können. Der Disponent lotst Filip zur Filiale der Volksbank. „Ich bin reingelaufen und habe schnell nach dem Defi gefragt.“ Mit Defi kehrt er zur Notfallstelle zurück. Sie bringen die Elektroden auf dem Brustkorb an. Das Gerät weist sie an, nun werde ein Schock ausgelöst. „Weg, Strom fließt“, ruft da plötzlich ein Mann, als zwei ausgebildete ehrenamtliche Ersthelfer eintreffen, denn die Leitstelle alarmiert beim Einsatzstichwort Herzinfarkt auch registrierte Ehrenamtliche, die sich in der Nähe aufhalten. Ein weiteres wichtiges Glied der Rettungskette.

Der Defibrillator löst einen Stromschlag aus. Der Mann zuckt. Semi reanimiert erneut. Dann übernehmen die Helfer vor Ort. „Die hatten richtige Helfer-Rucksäcke dabei“, erinnert sich Filip. Nach wenigen weiteren Augenblicken erscheint der Rettungsdienst. Filip weist den Weg, denn mittlerweile stehen einige Autos um die Unfallstelle herum. Rettungswagen und Notarzt fahren vor. Die jungen Männer entfernen sich. „Wir haben dann geschaut, dass keiner in die Nähe kommt.“ Auch die Polizei trifft ein. 

Disponent war enorm wertvoll

Wie war der Einsatz für die beiden jungen Männer? „Es war ein Schock, aber wir sind ruhig geblieben“, sagt Semi Russ. Filip Vrbetic ergänzt: „Ein wichtiger Faktor war, dass wir die Person nicht kannten.“ Sie hätten sich lediglich als Helfer betrachtet. „Ich hätte nicht gewusst, wie ich reagiert hätte, wenn dort mein Opa gelegen hätte.“ Die beiden würden gerne wissen, wie es dem Mann heute geht, ob er überlebt hat. Was im Krankenhaus passiert, das erfahren sie nicht, sagt Kai Frinke. Dorthin hatten sie den Mann mit dem Rettungswagen gebracht. Semi erinnert sich, wie erleichtert sie waren, als sie endlich das Blaulicht gesehen hatten. Der permanente Kontakt zur Leitstelle sei enorm wertvoll gewesen – fachlich und emotional. Der Disponent habe Ruhe ausgestrahlt, klare Anweisungen gegeben. Auch die Rückmeldungen war wichtig. „Wir haben gemerkt: Das, was wir gerade machen, kann dem Mann vielleicht das Leben retten“, sagt Semi. „Mein Arm hat gekrampft. Aber ich war so unter Strom: Ich habe immer weitergedrückt!“ Besser zu tief als zu schwach, habe der Disponent gesagt. So wussten sie, dass es nicht unnormal ist, wenn der Brustkorb blau anläuft.

„Wir haben viel gelernt an diesem Tag“, sagt Filip. Sie haben gesehen, wie man auch als Laie helfen kann und wie eng das Netz der Hilfe im Rems-Murr-Kreis gestrickt ist. Beeindruckt waren die beiden auch vom Rettungsdienst, wie professionell die Rettungskräfte vorgehen würde. „Es war krass, so einen Einsatz zu beobachten. Alle waren ruhig. Alle wussten, was sie machen sollten. Das war eine 5-Sterne-Reanimation“, beschreibt Semi es in seinen Worten. Das Kompliment kann Kai Frinke nur zurückgeben.

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